Bernhard Saupe: Zahnstellung im jeweiligen Freiraum. Drei Gedichte

Zahnstellung im jeweiligen Freiraum


die Bedingung der Möglichkeit einer Lyrik namens Adalbert Hans
liegt in der Gegenwart in der Dunkelheit – kann’s

mit der Luftfeuchtigkeit zu tun
haben? nun,

das hängt vom Luftfeuchtigkeits-
begriff ab, um den seit Jahrtausenden tausende Streits

toben (oder müsste es heißen Streite?) –
auf der einen Seite

standen und stehen dabei die, die Luftfeuchtigkeit für ein Bügelbrett halten,
darauf der Herr aller Mächte und Gewalten

seine Befindlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes entfaltet,
darin unsere Befindlichkeit quasi sozusagen zeltet,

auf der anderen Seite die, die sagen, nein,
Luftfeuchtigkeit kann kein Bügelbrett sein:

ein Bügelbrett ist in der Regel mit einem Metall-
gestell

versehen, das zur besseren Verstaubarkeit
zusammengeklappt werden kann! die Kaubarkeit

beider Anschauungsweisen variiert mit der Zahnstellung
im jeweiligen Freiraum: ist ihr Alleinstellung-

smerkmal schief, pfefferminztröstlich bzw. Gold,
so gilt,

dass alles geht und umgekehrt;
was aber wird

die Steuerberaterin, wenn sie uns sieht, sagen?
wird sie sich – die alte Betrügerin – betrogen

fühlen von der Lyrik namens Adalbert Hans in
unseren Augen? wird sie, außer sich, schreien: das kann

ich nicht glauben, das glaube ich nicht?
ich weiß es nicht, glaube aber nicht.

***

Atem des Universums


durch das Kofferluftloch schaut ein Tier
in die soziale Umgebung, darin ein Paar
Menschen greift das Thema Sex stöhnend
auf, sich unbeobachtet wähnend
mitten in Mitteleuropa in keinem Problem-
bereich, sondern dem angenehm
bunten Ambiente eines Designhotels,
darin die Frisur eines Eisbärfells
vor der Struktur eines Kaminfeuers auf
dem Boden liegt, darauf
sich das Paar ineinander verbissen,
dabei aber das Kofferluftloch vergessen

hat, durch das wie gesagt ein Tier
schaut und nichts dafür
kann, dass es sieht, was es sieht
und eventuell nicht vollständig versteht,
aber doch schwingungsmäßig erfasst,
was eine Spannung in ihm wachsen lässt,
die in ein unspezifisches Schnauben
mündet, das zwar schwer zu beschreiben
ist, aber durch das Kofferluftloch
nach außen dringt, wo sich
Mensch gerade mit der Sentenz
ja, gib es mir, gib es mir, gib es mir ganz!

an Mensch wendet, dann aber das Tier
schnauben hört und fragt: wer
oder was ist das? ist das der Atem des
Universums, wie wir es als unendliches
Luftloch kennen und schätzen? naja,
antwortet Mensch, eher ist das einfach die
Klimaanlage in ihrer Funktionsweise,
die zwar an und für sich leise
sein sollte, leider aber nicht immer ist,
was uns an unserer Lust
aber eigentlich nicht hindern sollte,
zumal uns die frisierte Eisbärfellfalte,

darauf wir liegen, an die in der Tier-
welt gängige, üblicherweise sehr
intensive Sexualität erinnert, die ohne
Bewusstsein auskommt, aber eine
Glückseligkeit zeitigt, deren Tiefe
wir in der Endlosschleife
unserer Sprachbegabung kaum ahnen,
durch lautes und glaubwürdiges Stöhnen
aber für Sekundenbruchteile glauben
können! das Tier hat sein Schnauben
inzwischen unterbrochen, liegt umgrenzt
vom Koffer in diesem und glänzt.

***


heute jedoch überwältigt die Welt eine Faktenlage

es gellt ein Schrei1 durch die Internetforen,
die Fernsehprogramme zerschneidet ein scharfes Trara,
in den Printmedien heult eine nie gehörte Sirene:
der, der sich eigentlich umgebracht hat, ist noch da!
der, der sich eigentlich umgebracht hat, ist noch da!

schon oft hatten Leute behauptet: „ich habe gesehen,
wie er auf offener Straße sich fuhr durchs Haar!“ –
ich stand daneben, als er sagte: ‚ich lebe!’“ –
mir hat er im Lift lächelnd zugenickt, wirklich wahr!“ –
mich hat er hörbar atmend erkannt,2 alles klar?“

bis heute waren das alles Gerüchte.
niemand mit skeptischer Lebenseinstellung hat sie geglaubt.
heute jedoch überrascht die Welt eine Faktenlage,
heute jedoch überwältigt die Welt eine Faktenlage,
heute jedoch überzeugt die Welt eine Faktenlage,
für die die Vokabel „Wunder“ nicht nur erlaubt,

sondern geradezu Pflicht ist im Sinn von: ein Wahnsinn,
in was für Unwahrscheinlichkeiten die Realität,
wenn sie will, vordringt: ’s ist kaum zu fassen,
was für ein Bild in diesen Minuten vor weit aufgerissenen inneren Augen entsteht:

da ist heute früh ein Mann aufgetaucht
vor Polizisten in einer arglos pulsierenden Stadt
und hat plötzlich und unerwartet behauptet, er sei
der, der sich eigentlich umgebracht hat,
der, der sich eigentlich umgebracht hat!

die Beamten ließen sich Ausweise zeigen,
sie verglichen die Flucht seiner Stirn mit dem Ausweisfoto,
sie verglichen die Wölbung seiner Brauen mit dem Ausweisfoto,
sie verglichen die Sonnigkeit seines Mondgesichts mit dem Ausweisfoto,

sie verglichen das Ausgefuchste seines Augenausdrucks mit dem ganz offensichtlich

nicht ganz neuen Ausweisfoto,

sie fragten einander, was sie glaubten,
um schließlich zu schließen: die auf dem Ausweisfoto

gezeigte Person ist die aufgetauchte:
der, der sich eigentlich umgebracht hat, leibt und lebt!
der, der sich eigentlich umgebracht hat, leibt und lebt!
sogar der rötliche Speiserest,
der ihm unnachahmlich im Mundwinkel klebt,

ist, sagen und schreiben inzwischen Leute, derselbe,
der ihm im Mundwinkel klebte, bevor er „ging“!
selbst der so trostlos knarzende Ast,
an dem er eigentlich endgültig hing –

oder war es ein Stahlträger, war es ein Drogenextrem? –,
knarzt Ohrenzeugen zufolge seit heute früh lebensbejahend:
alles was Odem hat lobe das Licht!
3
alles was Odem hat lobe das Licht!
alles was Odem hat lobe das Licht!
nie war ein Tagesereignis so glaubensbejahend!

nie war ein tragischer Trauerfall so reversibel
(jedenfalls nie seit es Medien und Genanalysen
4 gibt) –
zwar wird vereinzelt noch jetzt gezweifelt,
zwar wird vereinzelt noch jetzt bestritten,
dass es seit heute auch das, was es nicht gibt, gibt.

aber das wird schon weniger werden.
und wenn das nicht weniger wird, ist es halb so wild.
viel relevanter ist da schon die Frage,
ob der erweiterte Möglichkeitsraum für uns alle gilt,
ob der erweiterte Möglichkeitsraum für uns alle gilt:

speist sich das Heilsgeschehen des heutigen Tages
aus einer Milch, die in allen Kanälen fließt?
oder durchströmt sie nur den, der sich eigentlich umgebracht hat,
der sein neues Leben nicht länger schweigend genießt,
sondern soeben eine Erklärung verliest

auf allen Kanälen in allen Sprachen,
die ungefähr lautet: „mein Herz ist ein rundes Gehäuse“,
die ungefähr lautet: „mein Blut ist blubbernde Brause;
ich werde als nächstes ein Buch erzeugen;
anschließend filme ich mich bei der Jause.“

1im übertragenen Sinn!
2 vgl. 1Mo 4,1; 1Mo 4,17; 1Mo 4, 25; 1Mo 19,8; 1Mo 24,16; 4Mo 31,17; 1Sam 1,19; 1Kön 1,4; Lk 1,34.
3 vgl. Ps 150,6.
4 vgl. http://www.ihregene.de

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