Ich bin Tagelöhner in der Festung Europa.
Ich möchte Meisterdieb in Hartz IV werden.
Ich versuche mein Glück in Berlin.
Über diese kleine Anzeige lernte ich Poker Prochazka, Rogoshin und Dionysos kennen.
Poker Prochazka schrieb: „Gnädige Frau, Meisterdieb in Hartz IV zu werden soll angeblich ganz leicht sein, aber es hat doch die Schwierigkeit, dass mindestens 6 Millionen mit Ihnen dasselbe wollen. Alles weitere mündlich.“
Rogoshin schrieb von seinen „Forschungen zur Differenz der kapitalistischen und sozialistischen Mangelwirtschaft“ und nannte Berlin „das ideale Untersuchungsgebiet“. Das konnte anstrengend werden.
Dionysos schrieb, am nächsten Samstag sei Grillen auf dem Balkon angesagt, ob ich nicht kommen wolle. Er hatte ein Foto von sich mit Autogramm beigelegt. Vielleicht war er Schauspieler. Vielleicht hätte ich ihn kennen sollen, berühmt aus Film, Funk und Fernsehen. Vielleicht grillte er wirklich mitten im Winter auf dem Balkon. In einer Gegend, wo Legastheniker was Besseres als die Analphabeten sind, und diese wiederum was Besseres als die Taubstummen, wo Rollstuhl-Räuber nachts unter kranken Linden lauern und der Blinde dem Lahmen die Krücken stiehlt – na ja, jedenfalls starker Schneefall auf dem Weg nach Neukölln.
Dionysos öffnete die Tür. Was soll ich sagen. Dionysos, das war klassisches Altertum, Dauererektionen unter dicken Männerbäuchen, weinlaubbekränzte Bockshörner und dicke Säufernasen, ach du mein schönes Griechenland. Aber das war noch nicht alles. Dionysos hielt an jeder Hand zwei Kinder und ein fünftes kletterte über seinen Kopf von einer Schulter zur anderen. Sobald ich seine Nachkommenschaft gezählt und bewundert hatte, verkündete er strahlend, das nächste sei schon unterwegs.
Rogoshin, aus dem Hintergrund hervortretend: Bei euch ist immer das nächste schon unterwegs! Die schwangere Ehefrau: Du weißt doch, wie sehr Dino sich für Kinder begeistert (verdreht ein wenig die Augen gen Himmel), was soll man da machen, ihm etwa die Freude verderben? Nein, das bringt sie nicht übers Herz. Herzlich willkommen!
Nachdem mir Poker Prochazka vorgestellt worden war, standen wir etwas verlegen und ziemlich lange in der Wohnung herum. Die altersmäßig abgestuften Blagen, Krümel, Hosenmätze, Gören oder Rabauken, wie sie abwechselnd genannt wurden, der ansteigende Lärmpegel, den nur Dino mit seinem Gebrüll nach Ruhe übertreffen konnte und so, akustisch von oben kommend, die Lautstärke für eine Weile zu unterdrücken vermochte, die jedoch, kaum eingedämmt, auch schon gleich wieder expandierte. Eines der Bambini schrie immer, das war das Fanal für die anderen, doch als wir auf den Balkon traten, waren sie plötzlich alle verschwunden und Stille. Jedenfalls erinnere ich es so. Das Bild, das sich mit dem Vorhang auftat, schien wie aus einer anderen Welt. Dichte Schneeflocken vor dem schwarzen Hintergrund der Winternacht und davor erhoben sich orientalisch aufgeschichtete Pyramiden von Esswaren, ein flammendes Grillfeuer in der Mitte. Dionysos hatte den überdachten Balkon mit falschen Perserteppichen ausgelegt und in jeder Ecke einen Heizlüfter aufgestellt, damit wir es draußen schön warm haben. Ich verstand sofort, dass seine Freunde ihn liebten. Eine größere Gastfreundschaft findest du in ganz Berlin nicht. Vorne wärmte uns die Feuersglut, von hinten blies heiße Luft in unsere Rücken, zur Seite wärmte der Nachbar, die Nachbarin, unsere Gläser füllten sich wie von selbst, und im nächsten Moment kam auch schon ein neues, besonders gelungenes Stück auf den Teller.
Poker Prochazka brachte ein Hoch auf Dino und seine Frau aus, Rogoshin pries die kühne Ethik des Schenkens, welche von allen Morallehren die einzig brauchbare sei. Von den akademischen Reden, die er im Laufe des Abends noch hielt, habe ich leider wenig behalten. Nicht nur die sozialistische, auch die kapitalistische Marktwirtschaft bringt schließlich eine Mangelwirtschaft hervor, flüsterte er mit finsterer Miene. In Berlin haben wir beides in bunter Mischung, was Dinos Frau zu amüsieren schien, für den Forscher jedoch etwas war, was ihm Sorgen machte. Mit der fortschreitenden gegenseitigen Durchdringung wird die Differenz immer kleiner und ein Systemvergleich immer schwieriger. Es ist wahrscheinlich, dass sich die beiden einst so feindlichen Weltanschauungen an ihrem Ende (Rogoshin sagte „an ihrem After“) in Gestalt der durch sie hervorgebrachten Mangelwirtschaften versöhnen werden.
Poker Prochazka widersprach ihm, aber es war mir unmöglich, seinen Argumenten zu folgen. Ich erschrak, als er sich plötzlich über das nurmehr sanft glühende Grillfeuer beugte und mich fragte, ob ich arbeitslos sei? Alle sahen mich an. Ich sagte: Nun ja, Hartz IV ist natürlich immer Flucht vor den Palmeninseln der Südsee. Morgen macht mir meine Betreuerin wieder ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann. Die ist schlimmer als Vito Corleone. Ich möchte sagen, der Pate war ein Ritter der Tugend im Vergleich zu den Mädels der neu geschaffenen Arbeitsgemeinschaft SGB II. Die sind zu allem fähig. Das Merkwürdigste aber ist, dass sie uns dabei fortwährend „Kunden“ nennen. Was soll daran komisch sein, fragte Poker Prochazka. Das vereinfacht die Sache doch sehr. Für ihn, der sehr vornehm über ein nicht näher definiertes „Portfolio von Tätigkeiten“ verfügte, schien nichts ein Problem zu sein. Ich weiß bis heute nicht, ob er wirklich der Meisterdieb war, für den ich ihn hielt.
Dass Rogoshin ein fanatischer Malocher war und sich Tag und Nacht abrackerte, sah man ihm an. „Ich bin mein eigener Herr und Knecht“, rief er in die Runde, das Glas erhebend. Von seinen anschließenden Ausführungen zu Hegel und der Phänomenologie des Geistes verstand ich überhaupt nichts und tat nur so, indem ich zustimmend nickte. Dionysos nannte sich „Verwandlungskünstler“ und sah mit seinem Fez und der dicken Brille total ägyptisch aus. Im nächsten Moment war es mit der arabischen Gemütlichkeit vorbei, Dino ließ ein nicht vorhandenes Messer aufschnappen und es folgte die Nummer „Westfälischer Bauer sticht Sau ab“, die im Dreißigjährigen Krieg spielte. Dann stand ein Franz Biberkopf vor uns, der gleich darauf Orson Welles imitierte. Wir applaudierten und prosteten uns zum wiederholten Male zu. Der Wein war sehr gut. Der Wodka auch. Die „Eiserne Jungfrau“, die Rogoshin dann mir zu Ehren mixte, war super, aber die Wirkung schon etwas bedenklich.
Irgendwann drängten wir uns alle in der kleinen Einbauküche, Dino machte total auf tuntig und schwang die dicke Hüfte, richtete seine Männermöpse in den Raum, hob und schob sie uns entgegen à la oberste Oberweite, kaum noch im Zaum zu halten, du mußt sie bändigen, doch tust du es, dann fängt die üppigste Zügellosigkeit erst an, die Aufreißnummer mit Arme in die Seiten stemmen und Kann denn Liebe Sünde sein, Augengeklapper zu Mundgeplapper, zwincker und zwick, Dino versuchte seine Frau anzumachen, die im Spülbecken saß, in dem sie ihrer Fülle wegen nicht genug Platz fand und vergebens forderte, herausgehoben zu werden. Poker Prochazka wollte den Dunstabzug einschalten, Rogoshin verbot ihm das kategorisch. Nicht den Dampf absaugen und die wertvollen Inhaltsstoffe durch den Kamin blasen, sondern tief inhalieren, vom THC ist auch noch was in der verbrauchten Atemluft. Und keiner öffnet die Tür. Halt, hiergeblieben, mein Freund! Rogoshin war trotzdem plötzlich verschwunden, ich weiß nicht wohin, und von Poker Prochazka verabschiedete ich mich vor der Tür in die andere Richtung. Keine Ahnung, wie ich nach Hause kam, es dauerte trotz einiger Zeitsprünge eine gefühlte Ewigkeit.
Am Ostbahnhof inserierten sie eine Lektorenstelle, als ich am nächsten Tag vorsprach, war der Posten schon besetzt. Sie hatten da aber noch was anderes: Telefonsex. Die Firma machte ihre Gewinne mit Gesprächsgebühren. Es wäre ganz falsch gewesen, ihr Pornographie vorzuwerfen, denn es ging nur darum, an das Kleingeld zu kommen, mit dem die meist männlichen Kunden in ihren Hosentaschen spielten. Im Call-Center, wo die Mitarbeiter in langen Reihen in kleinen halboffenen Kabinen saßen, waren noch Plätze frei. Sex ist Arbeit. Ich sagte trotzdem nein. Zur Strafe haben sie mich dann nach Oberschöneweide geschickt. Ich sollte weggeworfene Bücher einsammeln und aus diesem Müll Bibliotheken für die arme Bevölkerung aufbauen. Die unterste Schicht bekommt vorgesetzt, was die Gesellschaft ausgeschieden hat, um es noch einmal zu verdauen und auszuscheiden. Das nennen wir mal echtes Recycling! Ich konnte meinen Ekel vor den schlechten, zerfledderten, dreckigen Büchern voller Nasenpopel nicht unterdrücken. Auf dem Rückweg warb eine Bank mit großen Plakaten im Fenster: „Die Kurse steigen. Hurra! Die Kurse fallen. Hurra!“ Wenn das kein Schnäppchen ist! Man sah mir allerdings gleich an, dass ich nicht teilhaben konnte an der besten aller Welten, zeigte mir aber netterweise die glänzenden Prospekte des neuen Finanzprodukts und schüttelte erst dann betrübt den Kopf. Da war nichts zu machen.
Bei Karstadt am Hermannplatz habe ich einen Kugelschreiber und im Edeka zwei Päckchen Kaugummi geklaut. Das Glücksgefühl war nicht groß. Es wurde mir schmerzhaft der geringe Warenwert bewusst, und die schier unendliche Entfernung, die da noch zu der angestrebten Meisterschaft bestand. Poker Prochazka will mich denn auch nicht weiter unterrichten, er hält mich für gänzlich unbegabt. Dionysus ist zu dick, nun hat er eine Arbeit und bekommt einen Lohn, der ihn mühelos abnehmen lässt. Rogoshin, der Kette raucht, wurde von seinem Trafikanten dabei beobachtet, wie er fremdging und seinen Tabak woanders kaufte. Mit dem Vorwurf konfrontiert, gestand er den Seitensprung, der ihm für diesmal verziehen wurde. Seitdem fühlt er sich unter Beobachtung und meint, er müsse sich mehr dem Thema „Kundentreue“ widmen.
Gestern habe ich mir von meinem letzten Geld ein paar schwarze Samtpantöffelchen gekauft, um Rogoshin zu gefallen. Als ich sie zu Hause anzog, rissen die Riemen nach wenigen Schritten, in dem Stoff, der Sohle und im Absatz war nichts als Pappe. Rogoshin, dem ich deswegen was vorheulte, hatte eine plötzliche theoretische Eingebung, die auf einen Schlag eine Menge Systemkomplexität reduziere, wie er sagte. Es verhalte sich nämlich so: Im Sozialismus wird alles, auch die Dinge des alltäglichen Bedarfs, zur Mangelware. In der kapitalistischen Mangelwirtschaft wird alles, auch die teuerste Marke, zur Mängelware. Es sind also nur zwei Punkte auf dem a, welche die kapitalistische von der sozialistischen Variante unterscheiden, das ist leicht zu merken. Danke, Rogoshin.